Ein surreales November-Wochenende in Kamtschatka

Karim Ladak

© Karim Ladak

Die Aeroflot-Boeing 767 am Moskauer Flughafen war bereit zum Start nach Petropawlowsk. Ich hatte eine extrem lange Woche hinter mir und war bereit, die Arbeitswelt aus meinem Kopf zu vertreiben. In der Kabine surrte es nur so, denn der Flug war bis zum letzten Platz ausgebucht. Alexey, mein Kollege, saß neben mir und startete seine Bildungsvorlesung „Kamtschatka für Ausländer“: Es ist eine Halbinsel mit etwa 350‘000 Einwohnern, die meisten arbeiten in Fischereien oder im Marinestützpunkt. Es liegt 9 Zeitzonen östlich von Moskau und die Flugzeit würde 7 Stunden und 40 Minuten betragen. Das Flugzeug startete um 16:40 Uhr, das Abendessen wurde serviert, verschiedene Gespräche ergaben sich… und plötzlich sah ich, wie die Sonne aufging. Es gab Frühstück und wir begannen unseren Landeanflug. Das Terrain sah aus der Luft wunderschön aus, eindrucksvoll. Eine Mischung aus rötlichem Boden und goldfarbenen Blättern, einige wenige Häuser, das Gebirge im Hintergrund. Das Flugzeug landete mit einem plötzlichen Ausbruch von Enthusiasmus und die Räder hüpften auf dem Boden, als ob sie Cha-Cha-Cha tanzen wollten in Kamt-schat-ka.



Der Flughafen war ein kleines Gebäude. So wie in vielen kleinen russischen Flughäfen bringt einen der Bus bis zum Gate und dann muss man zu einem anderen Häuschen laufen, um das Gepäck zu bekommen. Mstislav, unser Fahrer, wartete am Flughafen um uns abzuholen. Bald waren wir unterwegs in seinem Auto und hörten Abba auf der Musikanlage seines japanischen Minivans. Vielleicht war es die Nähe zu Japan, die ihn sogar auf der linken Seite der Straße fahren ließ. Egal. Mir wurde bewusst, dass wir nur eine Zeitzone von der Datumsgrenze entfernt waren. Es war gerade 10 Uhr am Samstagmorgen in Kamtschatka und 14 Uhr am Freitagnachmittag in Vancouver. Bald kamen wir zu unserem Hotel und checkten ein. Nicht schlecht… ich machte den Fernseher an, stellte Bloomberg News an, schaute aus dem Fenster und sah eine Welt, die ganz anders war als die Wallstreet. Hier war ich also. Schlaflos in Kamtschatka.

Der Reiseveranstalter informierte uns, dass unser Flug zu den Vulkanen wegen schlechten Wetters abgesagt wurde. Bei Wolken und unvorhersehbarem Wetter würden sie nicht fliegen. Mist. Also entschieden wir uns für Plan B, und nach einer kurzen Dusche sowie einer kleinen Dosis Internet war Plan B auch schon angekommen. Sein Name war Igor und er arbeitete beim Rettungsdienst auf der Insel. Er fuhr einen Toyota Land Cruiser und für uns ging es los. Wer sagte, wir müssten fliegen? Wir konnten auch fahren. Ähem. Und was, wenn die Straßen etwas holprig waren? Hmm. Nachdem ich 15 Minuten lang auf dem Rücksitz durchgeschüttelt worden war, fragte ich, ob die Straßen besser werden würden. Igor sagte, sie würden schlechter werden. Die zweistündige Fahrt entwickelte sich zu einer Hassliebe zwischen der unerbittlich holprigen Straße und der atemberaubenden Umgebung. Es war wirklich wie auf einem anderen Planeten, die schneebedeckten Gipfel, die roten Felsen, die kurvenreiche Straße. Kaum ein Anzeichen von Leben. Der Vorteil der holprigen Straße war, dass ich während der gesamten Fahrt wach blieb. Man sagt, Gott hat seine eigene Art Geschenke zu verteilen. Sogar in Kamtschatka.

Wir kamen an unserem Reiseziel an. 800 Meter über dem Meeresspiegel. Es war kalt, vielleicht etwa 0 Grad Celsius. Ich schaute hinaus und sah „Rauch“ in der Ferne. Wir liefen los. Bald kamen wir zu einem roten feuchten Pfad und es begann, etwas mehr nach einer Wanderung auszusehen als nach einem Spaziergang. Aber hey, ich halte mich für ausreichend junggeblieben und voll jugendlichem Elan, also sprintete ich mit meinen zwei Mitwanderern weiter. Plötzlich aber rutschte ich in der schlimmstmöglichen Matschpfütze aus. Ich stand würdevoll wieder auf, lächelte und versuchte ruhig zu bleiben, während Stimmen in meinem Kopf Schimpfwörter brummten. Mist. Ich hätte mehr über diesen Spaziergang erfragen sollen, der sich erst zu einer Wanderung und inzwischen zu einer Reality-TV-Expedition entwickelt hatte. Wir liefen weiter… und schon bald konnte ich mir meine Hände in den warmen Teichen waschen, die voll von klarem Bergwasser waren. Naja, der Rest der Wanderung setzte sich als Hassliebe fort. Ich war begeistert von den ersten Geysiren, die ich sah, von den Anhöhen, der fantastischen Pflanzenwelt, den Farben der Felsen, den heißen Quellen. Insgesamt sah ich eine Schönheit, wie sie mir nie zuvor begegnet war. Der Hass entwickelte sich in Panik, als ich dieselben Matschwege wieder herunterlaufen musste, auf denen ich hochgeklettert war. Autsch. Das erinnerte mich an den Römer-Wanderweg in der Slowakei, den ich vor 2 Jahren gewandert war, nur rutschiger und schlimmer. Egal. An dieser Stelle meines Berichts ist weniger mehr und ich belasse es dabei zu sagen, dass alle meine Knochen ganz geblieben sind und meine Wanderschuhe mit Massai-Technology das Offensichtliche bewiesen: Es gibt einen Unterschied zwischen den Hochebenen der afrikanischen Serengeti und dem Vulkangelände in Kamtschatka.

Das Abendessen im Restaurant des Hotels war eine einfache Angelegenheit. Große Fenster erlaubten den Blick auf den Whirlpool vor der Tür, Wodka wurde großzügig konsumiert, altmodische amerikanische Musik lief im Hintergrund und die Kellnerin sauste zwischen der Jukebox, der Bar und dem Tisch voller Bewunderer hin und her. Sie ließ den ganzen Raum lebendig werden, sogar die roten Mauern. Sie schien sich wohlzufühlen und der Service war großartig. Ich aß einen griechischen Salat und ein Kamtschatka-Curry mit gedünstetem Gemüse. Als Dessert gab es Apfel- und Orangenspalten – aufs Haus. Gastfreundlichkeit in Kamtschatka.

Ich schlief wie ein Baby und stand um 6:30 Uhr am Sonntagmorgen wieder auf. Die Sonne schien und sie sagten uns, dass unsere Hubschraubertour heute stattfinden würde. Um 10:30 Uhr waren wir am Startplatz. Und bereit los zu knattern. Eine Crew vom Fernsehsender „Erster Kanal“ aus Moskau war auch mit dabei. Es dauerte nicht lange bis uns fast die Luft wegblieb. Die Landschaft war einfach außergewöhnlich. Wir schlängelten uns durch die raue Schönheit der Insel, manchmal berührten wir dabei fast die Berghänge. Bei nur noch wenigen Metern Abstand, dachten wir, wir würden landen… nur um uns Sekunden später auf der andere Seite des Felsens wiederzufinden, wo wir feststellten, dass wir sehr weit oben flogen. Nach 30 Minuten Flug landeten wir in Dolina Geiserow, dem Tal der Geysire – einem Naturwunder in Kamtschatka.

Mir fehlen schlicht die Worte, um diesen Ort zu beschreiben. Er wurde erst 1941 entdeckt und vor wenigen Jahren verursachte eine gigantische Lawine aus Felsbrocken und Schotter die Entstehung eines natürlichen Dammes… und verwandelte den Hauptfluss in einen See. Grünes Wasser. Wir liefen hinunter in das Tal. Berge, Felsen, Flüsse, Bäche, Wasserfälle, heiße Wasserquellen, Büsche, Pflanzen in verschiedensten Farben, große Geysire, kleinere Geysire, der ständige Ausstoß von Wasser, Dampf, ein komplettes Ökosystem, das das Auge überwältigte, die Sinne hypnotisierte und sich über den Verstand hinwegsetzte. Ein Fluss hieß „Shumnaja“ (wörtlich „laut“). Das erinnerte mich an die Livingstonefälle am Kongo, wo die Wasserfälle in eine ähnlich spektakuläre Kulisse eingebettet sind, die „Mosi-O-Tunya“, der Rauch der donnert. Wir liefen hinunter und sahen, wie der erste Geysir seine ganze Kraft demonstrierte. Zehn Tonnen Wasser spritzten heraus und wurden für etwa 100 Sekunden 10 Meter in die Höhe geschleudert. Meine Güte! Wir gingen zu einem weiteren Geysir und dieser war der größte von allen. Man konnte ihn nur um diese Zeit des Jahres sehen. 30 Tonnen Wasser, 30 Meter hoch. Das Wasser hatte 97 Grad Celsius. Ich war ganz außer mir. Diese Fontänen waren besser als die in Fontainebleau.  Als nächstes stand das „Tor zur Hölle“ auf dem Programm. Drei Bergtunnel, die wie Nashornmäuler aussahen, spuckten heißes Wasser aus und verursachten dadurch gigantische Dampfwolken, die groß genug waren, jedem Angst einzujagen. Dann gab es die ‚verärgerte Quelle‘, die immer wieder kurz hervorschoss. Die Legende besagt, dass ein Bär dort hineingefallen ist und sich verbrannt hat. Armer Bär – in Kamtschatka.

Ja, die Bären kommen wirklich im Frühling in dieses Tal. Mir wurde erklärt, dass die Bären im Winter alle ihre Körperfunktionen auf Winterschlaf schalten. Wenn der Frühling anfängt, kommen sie ins Tal und versuchen, alle Leckereien der Gegend zu verzehren. Ich hörte auch, dass sie sich nach dem Erwachen aus dem Winterschlaf die Berge hinunterrollen, in der Hoffnung, dass ihr „Leitungssystem“ wieder etwas gelockert wird. Du weißt schon. Das System da hinten. Egal, zurück zu den Pflanzen… Man kann die Temperatur am Boden an der Farbe der Pflanzen erkennen. Ein helles irisches Grün bedeutet 40 Grad Celsius, Gelb heißt 60 Grad und so weiter. Es ist einfach ein beeindruckendes Ökosystem hier. Die heißen Quellen gibt es hier in allen Varianten. In Bächlein tröpfelnd, Rinnsale, kleine Teiche – in allen Farben. Einige sind so brodelnd heiß, dass man sich einfach so einen Tee machen könnte, einatmen und entspannen mit „Chai“. Meine Lieblingsquelle war jedoch eine, die mit Schokolade überzogen schien. Es brodelte und ich schwöre, es erinnerte mich an meine Kindheit. Es sah aus wie die größte Portion Schokoladen-Mousse, die ich je gesehen hatte. Gullivers Reisen – in den rauchenden Bergen von Kamtschatka.

Das war der erste Akt unseres Tagesausfluges. Der zweite Akt war fesselnd. Wir sahen alles aus dem Hubschrauber, stiegen zwischen den Berggipfeln auf, umkreisten den ersten Kratersee und waren vollkommen von seiner Schönheit verzaubert. Dann schwebte der Flieger um einen Vulkan mit einem tiefen Krater herum, in dem sich ein See befand – der Maly Semjatschik. Das Death Valley in Kalifornien hat einen Wettbewerber, der hier leise vor sich hin brodelt. Und dann kam die letzte Sehenswürdigkeit: Ein trichterförmiger Berg – der Wiljutschinski – mit einem „Mund“, der hunderte Tonnen von Wasser ausspuckte. Nicht von dieser Welt. Es gibt keine Worte, um zu beschreiben, wie die Ehrfurcht, die Schlichtheit, die Eleganz und die schiere Gewalt, die Kraft der Natur, alles in einem vereint ist. Es bringt einen zum Nachdenken über die Städte der Zukunft – wie Dubai – mit beeindruckendem Ehrgeiz und Visionen, aber von Menschen erschaffen. Was wir gerade gesehen hatten, war so absolut berauschend und es kam aus der Erde selbst. Jeder entscheidet selbst, was er mag und was nicht. Ich war einfach nur begeistert, dass wir einige der 160 Vulkane gesehen hatten in Kamtschatka.

Der letzte Akt spielte in einer klassischen Blockhütten-Kulisse im Wald, an einem wunderschönen breiten Fluss. Es gab einige Holzhütten, einen alten Mann und zwei Hunde, die uns erwarteten. Hier nahmen wir ein spätes Mittagessen zu uns. Es war köstlich. Der Wodka und das Bier sprudelten nur so bei der TV-Crew, es wurde viel gegessen und die Gruppe wurde fröhlich. Von diesem Ort flogen wir ab und zwanzig Minuten später landeten wir wieder auf dem Flugfeld. Bevor wir ausstiegen, erhielten wir unsere Zertifikate, die belegten, dass wir im Tal der Geysire gewesen sind. Mstislav war da, um uns wieder abzuholen und das Leben kam zurück zur Normalität als wir Popmusik hörten – in Kamtschatka.


Als ich jetzt im Flugzeug nach Wladiwostok sitze, denke ich wieder einmal darüber nach, wieviel Russland zu bieten hat. Wir haben gerade ein Weltnaturerbe gesehen. Im letzten Jahr war ich am Baikalsee und bewunderte das Ökosystem mit über 3500 Pflanzen und Tierarten. Ich war ebenfalls begeistert. Und nachdem ich gerade 34 Stunden am Thanksgiving-Wochenende in Kamtschatka verbracht habe, empfinde ich kein Bedauern darüber, dass ich nicht zu Hause in Kanada war, wo ich normalerweise den Sonntag des Feiertagswochenendes in der Seenlandschaft von Muskoka verbringe. Einfach ausgedrückt: Wir haben eine Menge, für das wir dankbar sein können, wir haben eine fantastische Erde. Wir müssen uns nur die Zeit nehmen, sie zu bewundern.


Weiterlesen:
Hier geht es zu Karims Bericht über eine ungewöhnliche Geschäftsreise nach Ägypten.
Den Blog von Anna über ihre Auswanderer-Erfahrungen in New York gibt’s in Annas New York Blog.


Wenn du gern einen Reisebericht von Karim über einen bestimmten Ort lesen willst, dann schreib deinen Wunsch in die Kommentare. Die Wahrscheinlichkeit, dass Karim schon dort war, ist groß.


Hier gibt es noch einige Impressionen von Karims Reise nach Kamtschatka:


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(1) Mit dem Land Cruiser unterwegs

© Karim Ladak

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(2) Mit Alexey im Tal der Geysire

© Karim Ladak

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(3) Dampfende Hügel vor schneebedeckten Gipfeln

© Karim Ladak

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(4) Unser Hubschrauber für den Rundflug

© Karim Ladak

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(5) Atemberaubende Aussicht von oben

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(6) Heißer Kratersee im schneebeckten Vulkan

© Karim Ladak

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(7) Alexey vor der Holzhütte in Kamtschatka

© Karim Ladak







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