Oktober – Kindheitserinnerungen in Brighton Beach

Anna Budeyri

© Anna Budeyri

Meine mit Abstand wichtigste Entdeckung im letzten Monat war Brighton Beach. Brighton Beach ist eine Gemeinde auf Coney Island im südlichen Teil von Brooklyn und weniger als eine Stunde Subway-Fahrt von Manhattan entfernt. Ich wollte diesen Ort schon immer sehen, denn er ist bekannt für seine große Dichte an russischen Einwanderern und wird von manchen sogar „Little Russia“ genannt (in ähnlichen Vierteln leben ausgewanderte Italiener, Polen, Deutsche und Menschen anderer Länder zusammen und sorgen so für die in ihrer Heimat besondere Kultur). Ich war gespannt und wusste nicht was mich erwarten würde.

Für mich erwies sich der Besuch in Brighton Beach als eine Art Zeitreise. Als ich durch die Straßen lief, fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Alles war wie damals – die Kleidung, die Produkte, die es zu kaufen gab, der Lifestyle, die Umgangsformen, die Sprache…

Die Bewohner schienen im Durchschnitt etwa 50 Jahre alt zu sein. Die meisten waren vor über 20 Jahren hergekommen, teils zu Zeiten des Kalten Krieges, und sie waren froh darüber, nicht mehr in Russland zu leben. Zu meiner Überraschung sprachen die meisten jedoch kein oder nur wenig Englisch. Sie brauchten es scheinbar einfach nicht. Ich beobachtete eine Situation, als ein russisches Ehepaar Tomaten von einem mexikanischen Händler kaufte. Sie erklärten ihm auf Russisch und mit Gesten wie sie damit Borschtsch, eine traditionelle russische Suppe, zubereiten wollten. Der Mexikaner musste versuchen, sie zu verstehen – deutlich nicht umgekehrt.

Man kann dem Ehepaar wohl keinen Vorwurf machen, dass sie die Sprache nicht gelernt haben. Einfach alles wird auf Russisch angeboten – die Schilder in den Geschäften, die Speisekarten in den Restaurants, die Vorführungen in Kinos oder Theatern. Besonders die Auswahl der Speisen hat mich beeindruckt. Brighton Beach bietet die ganze Vielfalt der russischen Produkte und kulinarischen Spezialitäten. Selim und ich konnten unseren Heißhunger auf russische Gerichte problemlos befriedigen (Für diejenigen, die die russische Küche kennen: Wir aßen Syrniki und Schwarzbrot mit Brimsen zum Frühstück und Pelmeni mit saurer Sahne zum Mittagessen).

Es überraschte mich, dass auch die Umgangsformen scheinbar unverändert waren. Die meisten Menschen wirkten sehr zurückhaltend, es gab nicht viele, die lächelten und offen auf andere zugingen, wie man es sonst in Amerika kennt. Ich sah leider nicht viele, die begeistert wirkten, die ein Funkeln in den Augen erkennen ließen. Die meisten schienen einfach nur ein ganz normales Leben führen zu wollen… essen, schlafen, arbeiten, shoppen…

Es wirkte, als würde die Veränderung der Welt an Brighton Beach spurlos vorübergehen, als wäre das Russland der 80er und 90er Jahre hier konserviert. Der Ort wird wohl weiterhin Menschen anziehen, die das russische Leben lieben, aber sich in Russland aus politischen oder anderen Gründen nicht wirklich zu Hause fühlen. Hier gibt es so etwas wie eine Schutzglocke, die die Menschen mit ihrer Kultur und Vergangenheit einschließt.

Dieser Ausflug hat mich zum Nachdenken gebracht. Auswandern bringt also nicht automatisch auch Entwicklung. Für die Einwohner von Brighton Beach war es Fortschritt, aus Russland zu entkommen. In Wirklichkeit aber war es vielleicht ihr Ziel, an ihrem alten Leben festzuhalten und den Fortschritt zu vermeiden. Auch den Fortschritt, der in Russland inzwischen Einzug gehalten hat.

Ich kam mit vielen Fragen zurück: Was motiviert die Menschen von Brighton Beach? Warum lernen sie nicht wenigstens die Sprache, um sich auch außerhalb des kleinen Ortes verständigen zu können? Warum geht die Kultur des Landes gleich um die Ecke so scheinbar spurlos an ihnen vorbei? Oder hat mich der erste Eindruck vielleicht getäuscht?

Ich werde sicher bald nach Brighton Beach zurückkehren und hoffe, dann ein paar Antworten zu finden. Auf jeden Fall ist es schön zu wissen, dass mit Brighton Beach ein Stück meiner Heimat gleich um die Ecke liegt. Auch wenn ich mich entschieden habe, ein anderes Leben zu führen, so bleiben die russische Traditionen und Mentalität doch immer ein Teil von mir.


Weiterlesen:
Hier geht es zurück zu Annas New York Blog.
Hier geht es weiter zu Annas Lebensgefühl im November.
Spannende Reiseberichte findest du in Karim's Corner.








Folge Dreampions @

AGB | Datenschutz | FAQ | Impressum | Kontakt
© 2016-2023 Dreampions