Ein unvergesslicher Tag in Bukarest

Karim Ladak

© Karim Ladak

Mitternacht in Bukarest. Es ist Freitagabend, das Ende einer furchtbar langen Woche und der Anfang eines sehnlich erwarteten Wochenendes. Ich bin plötzlich hellwach und entscheide mich spontan für einen Spaziergang im Park der gegenüber meiner Wohnung liegt. Im Sommer ist es warm in Bukarest und die 38 Parks der Stadt bieten reichliche Möglichkeiten für Aktivitäten im Freien. Herastrau, der Park, der ganz in der Nähe meines Apartments liegt, ist der größte Park und umringt einen wunderschönen See. Eine große Auswahl an Restaurants, Nachtclubs und Sportanlagen schmücken diesen Park. Ich bin in Entdeckerlaune und heute Abend, während ich so umherspaziere, finde ich mich plötzlich mitten im Feierabendverkehr. Autos, Taxis, Männer und Frauen, gekleidet mit einem klaren Ziel vor Augen, Parfums, Düfte, geschäftige Betriebsamkeit, eine Live-Band, viel Energie. Ich nähere mich der Menge und sehe einen Nachtclub mit dem Namen „Le Gaga“. Aha. Wie in Ibiza beginnen die Aktivitäten hier erst nach Mitternacht… Gegen ein Uhr morgens bin ich wieder zu Hause, ein wenig geschockt, dass sich dieser ruhige, entspannte und romantische Park in einen hemmungslos wilden und leidenschaftlichen Ort der Verführung verwandelt hat. Oh-la-la. Das ist Bukarest. Unauffällig und doch voller Überraschungen.

Am nächsten Morgen trete ich mit meinem Espresso auf den Balkon und ich sehe den Park voll mit Joggern, Radfahrern, Rollerbladern, Kinderwagen und Gärtnern, die die Blumenbeete trimmen. Ich würdige das dritte Gesicht dieses Parks. Von Romantik am Abend über Party in der Nacht zu Familien am Morgen. Das gefällt mir. Ein Park für alle Jahreszeiten, vielfältige Anlässe, 24x7 genutzt, immer „in Betrieb“. Eine gute Sache.

Ich sehe Leben im Restaurant „Fattoria“ am Parkeingang, ein Ort, den ich regelmäßig besuche. Die Kellner kommen an und ich erkenne sie trotz ihrer kunterbunten Kleidung. Bald werden sie wieder ihre schwarz-weißen Uniformen anziehen. Das täglich frische Gemüse wird angeliefert. Man kann die Vorbereitungen sehen und fühlen, während die Küche mal wieder einen wundervollen Sonntagsbruch inszeniert. Draußen auf der Terrasse bieten die weißen Tischdecken gemeinsam mit den flaschengrünen Sonnenschirmen und leuchtenden Blumen den perfekten Rahmen für ein gemütliches Mittagessen. Ich liebe dieses italienische Restaurant. Es hat meinen Appetit auf Pizza wieder erweckt, nach vielen Jahren der Abstinenz.

Später an diesem Tag treffe ich Viju und Adela, um mit ihnen einen schon voller Vorfreude erwarteten Spaziergang durch Bukarest zu unternehmen. Sie haben mir großzügig ihre Zeit angeboten, damit ich Bukarest durch ihre Augen erleben kann. Was für ein Genuss! Die Temperatur ist perfekt. Wir hatten einen Nachmittagsspaziergang geplant und ich war beeindruckt und tief berührt von der Menge an Vorbereitung, die Adela und Viju investiert hatten für einen Nachmittag, den ich mir als komplett locker und zwanglos vorgestellt hatte. Ich bin begeistert, aber irgendwie nicht überrascht, denn ich finde die Menschen hier außergewöhnlich freundlich, überaus aufmerksam und einfach ehrlich hilfsbereit.

Unsere erste Station ist die Kanadische Botschaft. Das öffnet mir natürlich das Herz, home, sweet home. Dieser Teil der Stadt ist voll von geschichtsträchtigen Gebäuden und eine großartige Erinnerung an die reichhaltige Historie der Stadt. Ein zweiminütiger Spaziergang nach Osten führt uns zum Gradina Icoanei Park, der Fußgänger mit einer gemütlichen und familiären Atmosphäre begrüßt. Als der Park 1873 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, gehörte er zum Randgebiet des alten Bukarest – jetzt liegt der kleine Park mitten im Herzen der Stadt.

Durch den Garten zu laufen ist großartig, aber es dauert nicht lange… Wir gehen von einem Ort zum Spielen zu einem Ort zum Beten und erreichen die Englische Kirche, ein kleiner Teil von England genau in der Mitte von Bukarest.

Die Straßen in dieser Gegend sind nach berühmten Künstlern benannt, deren Leidenschaft und Ausdrucksstärke noch heute lebendig sind. Die Menschen von Bukarest haben sich inzwischen zusammengeschlossen und appellieren an die Stadt, den gesamten Stadtteil in seiner ursprünglichen Form zu restaurieren und ihn als Fußgängerzone wiederzubeleben. Ein Street-Art-Festival fand erst vor wenigen Wochen statt. Künstler und Menschen aus allen Gesellschaftsschichten waren für ein Wochenende zusammengekommen, um ihre Unterstützung für dieses Vorhaben zu demonstrieren. Ich erinnere mich noch, wie ich gegen Mitternacht durch die Straßen gelaufen war und Maler, Buchhändler und Musiker sah. Sie waren alle dabei – einfach aus Liebe zu ihrer Stadt. Eine unglaubliche Leidenschaft.

Wir verlassen den Park am Boulevard Magheru, einem der breitesten Alleen der Stadt. Während wir auf der rechten Seite entlanglaufen, finden wir den immer wieder überraschenden Carturesti, ein Buch-Concept-Store, eine Kunstgalerie und ein Teehaus, alles unter dem gleichen Dach. Ich liebe dieses Geschäft. Der Hintereingang ist genau wie der Vordereingang vollkommen bezaubernd, mit Malereien an der Hinterhofwand, einem kleinen Freiluftkaffee, herrlichen Blumen und Efeu. Es ist ein altes Haus, das jetzt zu einem Mehrzweckgebäude umgebaut wurde, aber seine traditionelle Küche behalten hat.

Wir verlassen Carturesti, nachdem wir jede einzelne seiner Ecken erkundet haben, und überqueren den Boulevard Magheru vorsichtig. Bis hierher haben wir etwa ein Drittel der Tour zurückgelegt – und brauchen dringend einen Espresso. Cafepedia ist der perfekte Ort, um Kaffee zu trinken, sich auszuruhen und sich mit der Innenausstattung dieses Hauses aus dem 19. Jahrhundert vertraut zu machen, das dieses Kaffee beherbergt. Ich mag Cafepedia sehr. Es bietet die ganze Wärme und Gemütlichkeit eines Kaffeehauses des 19. Jahrhunderts, aber ist mit allen Annehmlichkeiten (ich meine Desserts, nicht die digitalen Annehmlichkeiten :) ) des 21. Jahrhunderts ausgestattet. Ich setze mich gemeinsam mit Viju und Adela. Sie erzählen mir mehr Geschichten über Bukarest und seine gehaltvolle Historie und lösen in mir so noch eine tiefere Wertschätzung für die Stadt aus.

Vom Cafepedia aus steuern wir unser nächstes Ziel an: Cismigiu Park. Die Wanderung bringt uns über den Piata Amzei Flohmarkt, einer der ältesten und berühmtesten Märkte der Stadt. Ich fühle mich wie im Himmel – mit einer größeren Auswahl an Blumen als ich sie je in meinem Leben gesehen habe. Und darüber hinaus gibt es auch noch meine absoluten Lieblinge: Sonnenblumen. Tausende von ihnen… man könnte auf die Idee kommen, dass Van Gogh seine Inspiration in Rumänien gefunden hat. Wir plaudern mit den Blumenverkäufern, die fröhlich lächeln. Wirklich herzerwärmend.

Wieder draußen öffnet sich die enge Straße in das Boulevard Calea Victoriei, welches die Stadt von Norden nach Süden durchquert. Wir gehen am Nationalen Kunstmuseum von Rumänien, der Nationalbibliothek und Parlamentspalast vorbei. All diese historischen Gebäude befinden sich auf dem Platz der Revolution, auf dem auch Nicolae Ceausescu seine letzte öffentliche Rede hielt. Das ist mein Lieblings-Platz in Bukarest. Er rühmt sich mit einer Mischung aus großartiger Geschichte, fantastischen Restaurants, einer wundervollen Piano-Bar und Spuren, die fast überall in der Stadt weisen. Die majestätische Athenee sitzt hier, stolz auf ihre Geschichte – eine Anerkennung der Rumänen, die jeder einen Penny gegeben haben, um ihre Restaurierung zu unterstützen.

Die Nationale Musikuniversität, die nach dem bekanntesten rumänischen Komponisten, George Enescu, benannt ist, versteckt sein großes Gebäude diskret hinter jahrhundertealten Bäumen. Als wir am Gebäude vorbei laufen, hören wir innen Geigen spielen. In Bukarest findet auch das internationale Musikfestival „Geroge Enescu“ statt.

Nur wenige Schritte entfernt öffnet der Cismigiu-Park seine Tore für Besucher. Seine Blumenbeete erstrecken sich seit 1847 über 17 Hektar genau in der Mitte von Bukarest. Es scheint, dass Bukarest voll von Parks ist und so zum Temperament seiner Einwohner passt, die das Leben und die frische Luft lieben.

Wir sind nun seit drei Stunden unterwegs und ich stelle fest, dass ich mit Viju einen eifrigen Fotografen an meiner Seite habe. Er hat seine Kamera und ich genieße seine und Adelas Fotos von der Stadt genauso sehr wie meine eigenen Eindrücke. Keiner von uns will es zugeben, aber wir sind ein wenig müde. Also springen wir in einen Bus der uns bis vor die Juristische Universität fährt, die bereits 1854 die ersten Rechtsgelehrten hervorgebracht hat. Von hier aus ist die Opera Nationala Bucuresti gleich um die Ecke auf dem Heldenplatz. Wir bestaunen sie von weitem und laufen weiter zur Metrostation, wo wir in einen Zug steigen. Die Oper hat unser Gespräch auf das Singen gelenkt und Adela gibt zu, dass sie als Kind gesungen hat. Nun ja, sie gibt uns eine Kostprobe und wir sind überwältigt von ihrer wunderschönen Stimme. Das war für mich der unvergesslichste Moment des Tages.

Wir machen uns auf den Weg zum Eingang des alten Stadtkerns, der Lipscani-Zone. Als wir sie durch eine der Seitenstraßen betreten, sehen wir die Studentenkirche, einen Ort, an dem die Studenten sich vor Prüfungen zum Beten zurückziehen. Wir gehen hinein und ich fühle mich wie verwandelt. Ich könnte schwören, dass ich mich in einer Gemeinde meines eigenen Glaubens befinde. Der Gesang ist außergewöhnlich ähnlich zu unseren traditionellen Ginans, der Chor genauso anziehend, die Kopfbedeckungen, die Gesten, die Rosenkränze, der Weihrauch, all diese Dinge geben mir das Gefühl in einer unserer Moscheen zu sein. In diesem Moment wird mir bewusst, welch ein starker Mix aus Ost und West diese Stadt ist. Ähnlich wie die Türkei.

Wir setzen uns für unseren letzten Plausch ins Van Gogh-Café, lassen den Tag Revue passieren und entscheiden, dass er ohne ein Glas Braga, der lokalen Hirsebier-Spezialität, nicht komplett ist. Also laufen wir durch die wunderschöne Altstadt auf der Suche danach… und wir probieren es. Ich werde dir nicht mehr darüber erzählen, aber ich empfehle dir, es selbst zu probieren und mir dann zu schreiben, was du davon hältst.

Ich sehe die Stadt und ihre Geschichte nun mit ganz anderen Augen, nachdem ich sie indirekt durch Adelas und Vijus Augen erleben durfte. Wir verabschieden uns als die Sonne gerade untergeht und ich bin mir absolut sicher, dass ich diesen Tag niemals vergessen werde. Leute fragen mich, ob ich mich in Bukarest wohlfühle. Wie könnte ich das nicht? Die Menschen sind außergewöhnlich und denken ebenso leidenschaftlich über das Leben wie ich es tue.


Weiterlesen:
Hier geht es zu Karims Artikel über „Ein surreales November-Wochenende in Kamtschatka“.
Inspirationen fürs Auswandern an einen Traumort gibt es von Dean Walle, der sein Leben in Los Angeles genießt.
Norbert Schiebelhut schreibt hier über sein Leben als Wahl-Mallorquiner.


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(1) Der Blick durch den Herastrau-Park bei Nacht

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(2) Die Kunstgalerie von Carturesti

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(3) Der spektakuläre Platz der Revolution

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(4) Straßenkünstler bei der Arbeit

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(5) Mit Adela und Viju im Cafe

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